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DAS GROSSE RENNEN

DAS GROSSE RENNEN
Peterli Meister, beinahe sechs Jahre alt, steht mit Hacke und Schaufel neben seinem Hund Flocki im Garten unter dem grossen Kastanienbaum. Vor wenigen Wochen stand er schon einmal hier, in einer ähnlichen Mission. Peterli ist sich bewusst, dass es diesmal eine grössere, arbeitsintensivere Angelegenheit ist, als beim letzten Mal, wo er noch von seinem Vater mit Rat und Tat unterstützt wurde.
"Peter, Peter, wo bist du denn?" klingt die besorgte Stimme seiner Mutter durch den Garten.
"Was treibst du hier mit diesen Werkzeugen?" fragt sie aufgebracht, als sie ihren Sohn endlich gefunden hat.
"Du darfst mich nicht so erschrecken, und dich heimlich aus dem Haus schleichen.
Seit dieser Geschichte mit deinem Vater sorge ich mich sehr viel mehr um dein Wohlergehen als vorher. Bring bitte die Werkzeuge in den Schuppen und komm rein, das Nachtessen ist gerichtet."

Kurt Meister war der Meinung, dass sein Sohn lernen sollte, für andere Verantwortung zu übernehmen.
Deshalb bekam Peter zum fünften Geburtstag einen Hamster geschenkt, für den er nun ganz alleine zuständig war.
Natürlich wurde der Hamster nicht in einer Tüte geliefert. Nur der beste, modernste Käfig war gut genug für Peters neues Haustier.
Das Laufrad war mit einem kleinen Generator ausgerüstet und mit der Lampenleiste auf der Türe verbunden. Fünf kleine Glühlampen konnte der Hamster bei seinem Lauftraining zum Leuchten bringen.
Peter studierte seinen neuen Wohngenossen genau. Plötzlich lachte er auf und rief: "Der hat Zähne wie unser Schulhausabwart. Ich nenne ihn Herr Grendelmaier." .Beim ersten Training im Laufrad schaffte es Herr Grendelmaier 2 Lampen zum Leuchten zu bringen. Peter war enttäuscht. Er hatte sich vorgestellt, abends im Lichte des Hamsterkäfigs noch ein wenig lesen zu können. Seine Eltern hatten nämlich die Unart angenommen, abends sein Zimmer vom Stromnetz zu trennen, um ihn zum Schlafen zu bringen. Peter wälzte sich im Bett herum. Die Freude über sein Geburtstagsgeschenk wich immer mehr und machte einer grenzenlosen Enttäuschung Platz. Nun sollte er also für diesen Schwächling die Verantwortung übernehmen und sogar noch sein Zimmer mit ihm teilen. Kurz vor dem Einschlafen kam ihm eine rettende Idee: Ovomaltine, damit geht's nicht besser aber länger.
Peter sah sich im Traum in einem hell beleuchteten Zimmer. Klein- Las Vegas und Herr Grendelmeier spulte unermüdlich seine Kilometer im Laufrad. Zum Frühstück nahm Peter die Spritze aus dem Kinder Arztkoffer mit. Er füllte sie mit seiner Frühstücks Ovomaltine, um sie später Herrn Grendelmaier einzuflössen.
In der grossen Pause erlebte er eine weitere Enttäuschung: Sein Freund Urs, der vor ein paar Monaten auch einen Hamster erhalten hatte mit dem gleichen modernen Käfig, erzählte, dass Schnuggi, wie er seinen Haustier nannte, bereits 3 Glühlampen zum leuchten brachte. Peter traute sich noch nicht, über seinen Schwächling zu sprechen. Urs erzählte, dass er Schnuggi seit Wochen mit Kraftfutter, das sein Bruder, ein body-builder auch einnahm, am Leben erhalten würde. Die beiden Knaben einigten sich darauf, ihre Hamster zu Spitzensportlern zu trimmen. Sie überlegten, dass sie mit dem überschüssigen Strom, den sie selbst nicht verbrauchen würden, das Taschengeld aufgebessern könnten. Mit sich und der Welt zufrieden kehrte Peter von der Schule zurück. Mutter war wütend, da Vater kurz vor dem Essen angerufen hatte weil er anscheinend noch einen wichtigen unverschiebbaren Termin wahrnehmen musste und deshalb nicht zum Essen kommen konnte.
Frau Meister stützte ihren Kopf mit beiden Händen. Sie war traurig und enttäuscht.
"Kurt wird sich noch zu Tode rennen, wenn er so weitermacht".
Als Peter über seinen Vater nachdachte, fiel ihm auf, dass dieser schon lange nicht mehr mit ihm spielte, weil andere Dinge wichtiger waren. Im Stillen freute sich Peter auf die Reaktion seines Vaters, wenn er ihm den Meister Grendelmaier- Energiekonzern vorstellen würde. Monate zogen ins Land. Herr Grendelmaier trainierte fleissig unter der Aufsicht von Peter. Nach 4 Monaten schaffte auch Peters Hamster die 3er Glühlampen-Schwelle. Peter rechnetete damit, dass Herr Grendelmaier so gegen Weihnachten die vierte Lampe bringen würde. Ende September, an einem sonnigen, warmen Herbsttag, befreite sich Herr Grendelmaier von der Stromproduktion. Peter fand seinen Hamster tot im Laufrad liegend. Herzschlag, wie der Tierarzt im Nachhinein herausfand. Peter war untröstlich. Damit waren seine Pläne und Vaters Weihnachtsgeschenk geplatzt.
Kurt Meister wollte seinem Sohn in dieser schwierigen Situation zur Seite stehen und ihn unterstützen.
So beschloss er, den Hamster mit einer kleinen Zeremonie im Garten unter dem grossen Kastanienbaum zu begraben. Vater und Sohn Meister holten die nötigen Werkzeuge aus dem Schuppen, und unter Vaters Anleitung hob Peter eine relativ tiefe Grube aus. Tief genug, dass Nachbars Katze nicht rankommen konnte und Herr Grendelmaier anknabbern würde. Mutter Meister bachte noch einige Blumen, um die Grabstelle unter der Kastanie zu schmücken Nachdem sie ihre traurige Arbeit verrichtet hatten, setzte sich die ganze Familie Meister zum z'Vieri in die Küche. Peter heulte was die Tränendrüsen hergaben. Vater und Mutter überlegten, wie sie ihren Sohn trösten könnten.
Kurt Meister dachte darüber nach, ob er Peter mit der Aufgabe der Tierhaltung überfordert hatte. Gekauft hatte er vor ein paar Monaten einen jungen Hamster, begraben hatte er soeben ein Tier, das eher der Grösse eines Meerschweinchens entsprach.
Da der Tierarzt keine Aeusserungen zur Grösse und zum Zustand des Tieres gemacht hatte, liess Kurt seine Zweifel an der Rassenechtheit Hr. Grendelmaiers fallen.
Der Alltag der Familie Meister nahm seinen Fortgang, als hätte es die Episode mit Herr Grendelmaier nie gegeben. Mutter wurde immer unzufriedener, Vater war dauernd unterwegs in wichtigen Geschäften. Weihnachten stand vor der Tür und Peter überlegte sich, mit seinem Taschengeld eine Heizung zu kaufen, damit Herr Grendelmaier sich nicht erkältet unter der Kastanie. Er war der Einzige, der sich noch jeden Tag durch den Schnee kämpfte, um mit seinem Hamster Zwiesprache zu halten.
Nachts setzte er sich ans Fenster und bestaunte das Sternenzelt. Er war überzeugt von der Idee, dass Herr Grendelmaier nun im Himmel Strom für tausend Sterne macht und nicht nur für lächerliche drei Glühlämpchen.
Peter's Weihnachtsgeschenke fielen in diesem Jahr üppiger aus als sonst. Von seinen Grosseltern bekam er einen kleinen Hund. Ein Ersatzhamster. Die Freude über den neuen Familienzuwachs verflog, als Peter nun jeden Tag und vor allem bei jedem Wetter seine Runde mit dem Hund gehen sollte.
Vater Meister nahm sich vor, die Pflege des neuen Hausgenossen besser zu überwachen. Täglich ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft, würde seiner Gesundheit auch nicht schaden und die Beziehung zu seinem Sohn festigen.
Leider blieb es beim guten Vorsatz.
Es war ein schöner, sonniger Frühlingstag, als der Anruf aus dem Krankenhaus kam;
Kurt Meister hatte im Büro einen Herzschlag erlitten und war auf dem Weg zum Krankenhaus verstorben. Ein paar Tage waren seit dieser Nachricht vergangen. Traurig sieht Frau Meister zum offenen Küchenfenster hinaus Richtung Kastanie, wo sich ihr Sohn immer noch mit seinem Hund aufhält.. "Mindestens hundert Meter tief müssen wir graben, damit Nachbars Katze nicht rankommt und Vati anknabbert", erklärt Peter gewissenhaft seinem Hund.
Frau Meister eilt in den Garten, um diesem schauerlichen Schauspiel ein Ende zu setzen.
"Peter, bist du verrückt, Menschen werden nicht einfach im Garten verscharrt, die werden auf dem Friedhof begraben, was hast du dir da bloss überlegt?"
Vati und Herr Grendelmaier haben sich zu Tode gerannt. Wenn sie am gleichen Ort begraben sind, kommen sie auch in den gleichen Himmel, und fühlen sich dann da oben nicht so einsam, weil sie sich schon kennen.
"Vati macht den Strom für den Mond und Herr Grendelmaier lässt die Sterne leuchten." "Ein gutes Team." "Ich habe es letzte Nacht gesehen", erklärt Peter ganz wichtig seinem Hund. "Flocki komm her, es wird nicht im Garten rumgerannt." Erleichtert schmunzelnd kehrt Frau Meister ins Haus zurück, anscheinend hat Peter bereits einen Weg gefunden, den Tod seines Vaters zu verarbeiten.

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